An meinem fünften Geburtstag habe ich mit einem Ritual begonnen, das mich bis heute begleitet: Jedes Jahr nehme ich mir bewusst einige Minuten Zeit und überlege, wo ich wohl in genau einem Jahr sein werde, was ich erlebt und erreicht haben werde. Was ich geworden bin – oder eben (noch) nicht. Inzwischen erlaube ich mir dieses Gedankenspiel gleich zweimal im Jahr, und zwar zusätzlich an Silvester. Mein kürzlicher Geburtstag war somit Anlass, das vergangene Halbjahr wie üblich Revue passieren zu lassen. Zeit für die ernüchternde Zwischenbilanz 2020 meines «Sabbaticals».
2020 sollte mein Jahr werden. Endlich kam die langersehnte Gelegenheit, sich von Verpflichtungen und mühseligen Aufgaben zu verabschieden und das zu tun, was gefühlt jede*r (ausser natürlich ich) schon erlebt hat – Reisen, Abenteuer, Freiheit, Selbsterfüllung. Das Studium war beendet und beruflich wurde es Zeit für eine Veränderung. Die perfekte Gelegenheit also für eine Auszeit (oder wie sagt man so schön: ein «Sabbatical»).
Von grossen Träumen und kleinen Plänen
Dank meiner Aus- und Rückblickroutine kann ich mich noch gut an meinen Geburtstag im Mai letzten Jahres erinnern. Ich war in den letzten Zügen meiner Bachelorarbeit und froh, dass das Ende des Studiums endlich in Reichweite war. So sehr ich die vier Jahre genossen hatte, so sehr freute ich mich, endlich wieder neue Pläne schmieden zu können. Klar, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits das «Danach» plante. Während vier Jahren sind nämlich so einige Ideen zusammengekommen. Status quo der damaligen Planung: Zur Ruhe kommen, all die verpassten Treffen mit Freunden nachholen, ein finanzielles Polster aufbauen und die Weltreise planen, welche Michi und ich anfangs 2020 gemeinsam antreten wollten.
Silvester – 2020 unter einem guten Stern
Dass Träume sich verändern können, hat vermutlich jede*r schon mal erlebt. Inzwischen war klar, dass unsere Weltreise noch ein bisschen warten muss. Nichtsdestotrotz brauchte ich dringend eine Veränderung. Was lag da naher, als «meine» Pläne und Träume zu verwirklichen, die für Michi ohnehin uninteressant waren? Konkret: Ein halbes Jahr Work & Travel auf Pferdefarmen in Kanada und anschliessend ein Masterstudium im Ausland. Eine ganz passable Zwischenlösung, wie mir schien.
Die Planungen liefen gut. Im Dezember konnte ich mein Arbeitspensum soweit kürzen, dass ich unterwegs stressfrei arbeiten kann und trotzdem ein kleines, regelmässiges Einkommen habe. Meine Kanadaroute war gesetzt, die Flüge gebucht und die Farmer freuten sich auf meine Unterstützung. Sogar eine dreiwöchige Rundreise mit Michi rund um Vancouver war bereits fix geplant. Ebenso liefen die Vorbereitungen für’s Studium einwandfrei; wenn auch aufwändiger als gedacht.
Anfangs des Jahres, vor «meinem» Abenteuer, reisten Michi und ich sogar noch vier Wochen durch Costa Rica. Eine herrliche Auszeit und der perfekte Einstieg in ein tolles Jahr. (Hier geht’s zu unserem kleinen Reisebericht.) 2020 konnte also kommen!
Die Pechsträhne beginnt – noch vor dem Corona-Destaster
Endlos lange Strände, leckeres Essen, Sonne und exotische Wildtiere – Pura Vida. Wir genossen unsere Ferien in vollen Zügen! Aber bereits gegen Mitte der Ferien erfuhren wir, dass es im Unternehmen, wo wir beide arbeiten, einige Turbulenzen gab. Unsere Rückkehr war entsprechend «unchillig», da viel Arbeit und eine merkwürdige Stimmung uns begrüssten. Schon nach dem ersten Tag waren fast sämtliche Urlaubsgefühle weg, da im Office die Hektik omnipräsent war – ganz zu schweigen vom Wetter. Ich fühlte mich noch mehr bestätigt, dass mein Entscheid für eine Auszeit und etwas Abstand zum 0815-Job richtig war, und freute mich noch mehr auf Kanada.
Hallo Corona, tschüss Kanada
Seither begleitete (nicht nur) uns das Pech. Mit Missmut verfolgte ich die Geschehnisse in den Medien, war aber guter Dinge, dass ich trotzdem abreisen kann – schliesslich war der Corona-Hotspot in Europa. Einige Tage vor meinem Abflug gingen Michi und ich sogar noch in den Reitladen, um die letzten Dinge zu besorgen. Und dann passierte es doch – Kanada schloss die Grenzen für Touristen bis mindestens Ende Juli. Mein lang geplanter Traum zerplatzte innert weniger Minuten. Wie schnell im März auch andere Länder den Lockdown beschlossen, muss ich hier wohl kaum erläutern. Wo sollte ich also hin? Hinzu kam, dass niemand wusste, wie sich das Virus entwickeln würde. So blieb ich also zuhause – und wartete, und wartete, und wartete.
Zwischen Geniessen und Däumchen drehen
Es wäre gelogen zu sagen, dass die Zeit zuhause – das Festsitzen – mühsam war. Ich machte einfach das Beste daraus: genoss die Zeit mit Michi, belegte Online-Kurse an Unis und arbeitete weiterhin Teilzeit im Home-Office. So konnte ich trotzdem ein wenig Abstand vom Alltagstrott gewinnen. In dieser Zeit bekam ich noch die erfreuliche Zusage, dass ich an meiner Wunsch-Uni angenommen wurde. Es war schön, diesen Moment mit Michi teilen und später noch unsere beiden Geburtstage zusammen feiern zu können. All diese Momente möchte ich nicht missen.
Meine Auszeit wollte ich jedoch immer noch nutzen und wenigstens meine neuen Reitklamotten einweihen. So durchforstete ich täglich die Plattform, auf der die Jobs ausgeschrieben waren, und schrieb Farmer an – natürlich nur in den Ländern, wo ich einreisen durfte. Corona sei Dank, sagten mir jedoch alle ab (sofern sie überhaupt antworteten).
Corona? Ist den Wiener Pferden wurscht
Plötzlich ging es dann doch ganz schnell. Als die Nachricht kam, dass die Grenze zu Österreich geöffnet wird, habe ich mich bei einem Pferdehof gemeldet und prompt eine Zusage erhalten. Corona sei ihnen «wurscht», ich sei willkommen. Pünktlich am Tag der Grenzöffnung sass ich also im Zug Richtung Wien. Das dumpfe Corona-Gefühl war auf einmal wie weggeblasen.
Hier bin ich nun, in der Pampa zwischen Wien und Tschechien. Der Ausblick ins zweite Halbjahr ist immerhin nicht mehr ganz so düster. Für eine Zwischenbilanz nach drei Tagen auf dem Pferdehof ist es sicherlich noch zu früh, aber die Reitklamotten sind inzwischen eingeweiht. Ob ich wie geplant sechs Wochen bleibe, steht aber noch in den Sternen. Pferdemist gäbe es jedenfalls genug.
